Aufruf zum Frieden

16. Oktober 2023

© Kai Bienert
Die aktuellen Geschehnisse in Israel und Gaza haben uns alle zutiefst erschüttert. Die barbarischen, terroristischen Akte der Hamas gegenüber Zivilisten, darunter Kinder und Babys, sind durch nichts zu rechtfertigen. Dies müssen wir so stehen lassen und innehalten.

 

Dann stellt sich als nächster Schritt natürlich die Frage: Was nun? Ergeben wir uns nun dieser furchtbaren Gewalt und lassen wir unser Streben nach Frieden „sterben“ – oder beharren wir weiter darauf, dass es Frieden geben muss und geben kann?

 

Ich bin überzeugt, dass wir weitermachen und dafür den größeren Kontext des Konflikts im Blick haben müssen. Unsere Musikerinnen und Musiker des West-Eastern Divan Orchestra, unsere Studentinnen und Studenten in der Barenboim-Said Akademie, sie sind fast alle unmittelbar betroffen. Viele der Musikerinnen und Musiker leben in der Region, und auch die anderen haben viele Verbindungen in ihre Heimat. Dies bestärkt mich in meiner Überzeugung, dass es nur eine Lösung dieses Konflikts geben kann: auf der Grundlage von Humanismus, Gerechtigkeit und Gleichheit – und ohne Waffengewalt und Besatzung.

 

Unsere Friedensbotschaft muss lauter sein denn je. Die größte Gefahr ist doch, dass alle die Menschen, die sich so sehnlichst Frieden wünschen, von Extremisten und Gewalt übertönt werden. Jegliche Analyse, jegliche moralische Gleichung, die wir möglicherweise aufsetzen, muss aber als Basis dieses Grundverständnis haben: Es gibt Menschen auf beiden Seiten. Menschlichkeit ist universell, und die Anerkennung dieser Wahrheit auf beiden Seiten ist der einzige Weg. Das Leiden unschuldiger Menschen auf egal welcher Seite ist absolut unerträglich.

 

Die Bilder der verheerenden terroristischen Angriffe der Hamas brechen uns das Herz. Unsere Reaktion zeigt deutlich: Die Bereitschaft zur Empathie, die Bereitschaft, die Situation der Anderen nachzufühlen, ist essenziell. Man muss selbstverständlich und gerade jetzt auch Ängste, Verzweiflung und Wut zulassen – aber in dem Moment, wo dies dazu führt, dass wir einander die Menschlichkeit absprechen, sind wir verloren. Jede einzelne Person kann etwas bewirken und weitergeben. So verändern wir im Kleinen. Im Großen ist die Politik gefragt.

 

Wir müssen denen, die sich zum Extremismus hingezogen fühlen, andere Perspektiven bieten. Meist sind es doch völlig perspektivlose, verzweifelte Menschen, die sich mörderischen oder extremistischen Ideologien verschreiben, dort ein Zuhause finden. Bildung und Information sind ebenso essenziell, denn es gibt so viele Positionen, die auf absoluter Falschinformation basieren.

 

Um es ganz klar zu wiederholen: Der israelisch-palästinensische Konflikt ist kein politischer Konflikt, zwischen zwei Staaten über Grenzen, Wasser, Öl oder andere Ressourcen. Es ist ein zutiefst menschlicher Konflikt zwischen zwei Völkern, die Leid und Verfolgung kennen. Die Verfolgung des jüdischen Volkes über 20 Jahrhunderte fand ihren grausamen Höhepunkt in der Ideologie der Nazis, die sechs Millionen Juden ermordeten. Das jüdische Volk hegte einen Traum; ein eigenes Land, eine Heimat für alle Juden im heutigen Gebiet Palästinas. Aus diesem Traum aber folgte eine zutiefst problematische, weil grundfalsche Annahme: Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land. In Wahrheit jedoch lag der Anteil der jüdischen Bevölkerung Palästinas im Ersten Weltkrieg bei nur neun Prozent. 91 Prozent der Bevölkerung waren also nicht jüdisch, sondern palästinensisch, über Jahrhunderte gewachsen. Das Land kann kaum als „Land ohne Volk“ bezeichnet werden, und die palästinensische Bevölkerung sah keinen Grund, das eigene Land aufzugeben. Der Konflikt war somit unausweichlich, und seit seinem Beginn haben sich die Fronten über Generationen nur weiter verhärtet. Ich bin überzeugt: Die Israelis werden dann Sicherheit haben, wenn die Palästinenser Hoffnung spüren können, also Gerechtigkeit. Beide Seiten müssen ihre Feinde als Menschen erkennen und versuchen, ihre Sichtweise, ihren Schmerz und ihre Not nachzuempfinden. Israelis müssen auch akzeptieren, dass die Besetzung Palästinas damit nicht vereinbar ist.

 

Für mein Verständnis dieses über 70 Jahre alten Konflikts ist meine Freundschaft mit Edward Said das Schlüsselerlebnis. Wir haben ineinander ein Gegenüber gefunden, das uns weiterbringen kann und helfen kann, den vermeintlich Anderen klarer zu sehen und besser zu verstehen. Wir haben uns in unserer gemeinsamen Menschlichkeit erkannt und gefunden. Für mich ist unsere gemeinsame Arbeit mit dem West-Eastern Divan Orchestra, die in der Barenboim-Said Akademie ihre logische Weiterführung und vielleicht sogar ihren Höhepunkt findet, die wohlwichtigste Tätigkeit meines Lebens.

 

In der aktuellen Situation fragen wir uns natürlich nach der Bedeutung unserer gemeinsamen Arbeit in Orchester und Akademie. Es mag wenig erscheinen – aber die Tatsache allein, dass arabische und israelische Musikerinnen und Musiker bei jedem Konzert ein Pult teilen und gemeinsam musizieren, das ist für uns von immensem Wert. Über die Jahre haben wir durch diese Gemeinsamkeit des Musizierens, aber auch durch unsere unzähligen, teilweise hitzigen Diskussionen gelernt, den vermeintlich Anderen besser zu verstehen, auf ihn zuzugehen und Gemeinsamkeiten in unserer Menschlichkeit und in der Musik zu finden. Wir beginnen und enden alle noch so kontroversen Diskussionen mit dem grundsätzlichen Verständnis, dass wir alle gleichwertige Menschen sind, die Frieden, Freiheit und Glück verdienen.

 

Das mag naiv klingen, ist es aber nicht: Denn es ist ja dieses Verständnis, welches im Konflikt auf beiden Seiten heute völlig verloren erscheint. Unsere Erfahrung zeigt, dass diese Botschaft viele Menschen in der Region und auf der ganzen Welt erreicht hat. Wir müssen, wollen und werden weiter daran glauben, dass Musik uns in unserer Menschlichkeit einander näherbringen kann.

in the media

Der Beitrag von Maestro Barenboim wurde in mehreren Zeitungen auf der ganzen Welt veröffentlicht, darunter die Süddeutsche Zeitung (Deutschland), The Guardian (Großbritannien), El País (Spanien) or Le Figaro (Frankreich).